Gibt es Unterschiede zwischen der chinesischen und der westlichen Pflanzenheilkunde? Verschiedenheiten, die über die Auswahl der Kräuter hinausgeht? Gibt es. Ganz erheblich sogar.
Wichtigste Behandlungsmethode der TCM
Die chinesische Arzneimitteltherapie (Phytotherapie) unterscheidet sich von der Bedeutung und Art der Anwendung deutlich von der westlichen. Im Rahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) zählt sie neben der Diätetik zu den „inneren Verfahren“ im Gegensatz zu den äußeren Verfahren Akupressur, Tuina und Qigong.
Lange Zeit der Reife
Die Entwicklung der chinesischen Phytotherapie hat eine lange „Wachstums- und Reifeperiode“. 2000 Jahre lang konnten die Menschen Beobachtungen machen, Erfahrungen sammeln und therapeutische Anwendungen durchführen.
Dieser tolerante Umgang der chinesischen Kultur mit dem Erfahrungsgut älterer Generationen hat über die Jahrtausende eine wertvolle Frucht hervorgebracht, aus der sich heute alle bedienen können. So wird die Phytotherapie heute als Ergänzung zur modernen Medizin Chinas verstanden, kein Entweder-Oder. Bezüglich der Verbreitung und therapeutischen Reichweite ist die Phyototherapie heute in China für die Behandlung chronischer Krankheiten die mit Abstand wichtigste Behandlungsmethode der TCM.
Wie „denkt“ die chinesische Phytotherapie?
Wer Arzneirezepturen nach der chinesischen Kräuterheilkunde verordnen will, muss sich sehr gut mit TCM und der zugrundeliegenden Prinzipien, Philosophie und Diagnostik auskennen. Denn es gibt mehrere Tausend „chinesische“ Kräuter (die westliche Phytotherapie kennt davon nur ca. 100 bis 150 genauer). Ein Wochenendseminar in Akupunktur oder Grundkurs in TCM reicht da also kaum aus.
Man muss die Gegensätze von Yin und Yang und die Funktion von „Qi“ verinnerlichen, Begriffe wie „Leber“ oder „Milz“ als Funktionskreise (statt physische Organe) erkennen, den Menschen als Verkörperung der fünf Elemente verstehen und Krankheitsfaktoren wie „Wind“ „Kälte“ oder „Hitze“ einbeziehen, wobei auch dies nicht wörtlich zu nehmen ist.
Der chinesische Krankheitsbegriff wird im Einklang und Interaktion mit der Natur, organübergreifend und den ganzen Organismus umfassend betrachtet. Ein krankes Organ ist nicht die Krankheit selbst, wie in der westlichen Medizin – sondern nur „Gastgeber“. Krankheiten werden als Allgemeinstörungen angesehen. Die Phytotherapie gilt als ein Mittel zum „Organismus-In-Balance-Bringen“.
Die Problembehebung steht also im Vordergrund. Im Ausnahmefall werden auch Akutbehandlungen durchgeführt, z.B. wenn die Krankheit gefährlich oder sehr quälend ist.
Die westliche Kräuterheilkunde
Die moderne, westliche Medizin hingegen verbindet eine Krankheit gern mit dem befallenen Organ oder Gewebe. In Folge wird ein Arzneimittel meist organbezogen verordnet. Das Schöllkraut wirkt galletreibend, der Fingerhut bringt Schlagkraft fürs Herz, der Ackerschachtelhalm regeneriert Sehnen, Bänder und Knorpel. Die westliche Schulmedizin zielt also bei der Mittelverordnung tendenziell auf „akute“ Zustände, auf Symptome im entsprechenden Körperbereich ab.
Wirkung der chinesischen Arzneidrogen
Die Wirkbeschreibung der chinesischen Arzneimittel klingt für westliche Ohren ungewöhnlich. Wesentlich für die Wirkung eines Krauts ist z. B., ob es den Organismus austrocknet oder befeuchtet, Qi ausleitet oder zuführt (tonisiert), zusammenzieht oder verteilt, Qi nach oben hebt oder unten senkt.
Die zahlreichen Kategorien zur Beschreibung der chinesischen Kräuterdrogen will ich anhand der beiden folgenden Beispiele beschreiben.
Geschmack bewegt Qi
Ebenso wie die für Düfte und Töne verantwortlichen Zellinformationen das Gehirn erreichen (man denke nur an einen netten Duft, der ein „Kribbeln“ verursacht oder eine Melodie, die eine Erinnerung weckt), so erreichen auch Geschmackszellen unser Hirn. Diese Geschmacksempfindungen – scharf, süß, sauer, bitter, salzig oder neutral – macht sich die chinesische Arzneimittellehre zunutze. Beispiel:
Scharfes regt den Qi-Fluss an, treibt nach oben und außen (Schwitzen), fördert die Sekretion. Zu viel Scharfes laugt aus, verbraucht Qi und Säfte (Blut, Flüssigkeiten).
Süßes nährt und harmonisiert; zu viel davon macht müde, dick und aufgeregt und kann zu Verschlackung und innerer Hitze führen (Zappelmänner!)
Saures zieht zusammen, verhindert übermäßiges Herausgeben von Qi und Säften. Ein Übermaß behindert den Stoffaustausch und die Kommunikation.
Bittere Nahrung senkt das Qi ab, beruhigt, trocknet und leitet über die unteren Organe ab. Zu viel davon macht trocken und führt zu Vitalitätsverlust.
Salziges löst und weicht in der tieferen Schicht. Zu viel Salziges erzeugt Gedunsenheit und schwächt die Verbindung zwischen Yin und Yang.
Temperatur
Alle Arzneimittel sind in sieben Temperaturstufen aufgeteilt: von kalt (Yin) über neutral zu heiß (Yang). Hier ein paar Anwendungsbeispiele mit TCM Wirkung und häufiger Indikation:
Alant (Blüte): zerteilt Schleim, senkt Qi ab, stoppt Erbrechen – Husten, Atemnot mit Auswurf, Aufstoßen, Schluckauf
Engelwurz (Wurzel): vertreibt Wind, beseitigt Feuchtigkeit und Eiter – Stirnkopf- und Zahnschmerzen, eiternde Hautleiden, Nasenverstopfung
Pfefferminze (Kraut): zertreut Wind-Hitze, klärt Kopf, bewegt Leber-Qi – Fieber, Kopfschmerzen, Halsentzündungen, emotionale Instabilität
Rharbarbar (Wurzel): leitet Hitze ab, bewegt Blut und Stuhl, entgiftet – hohes Fieber, Hautentzündung, Nasenbluten, Schwitzen, Verstopfung,
Gastrodien: besänftigt die Leber, macht Meridiane durchgängig: epileptische Anfälle, Rheumaschmerzen, Spasmen, Sensibilitätsverluste
Anwendung
Die Arzneien bestehen hauptsächlich aus Pflanzen und Pflanzenteilen, seltener aus mineralischen Naturstoffen oder tierischen Bestandteilen. Die häufigste Zubereitungsform ist die Abkochung, das Dekokt. Der Patient kocht die für ihn zubereitete Mischung aus bis zu 8 Einzelkräutern (in China bis zu 24) für rund 30 Minuten. Dieser Sud/Extrakt wird im Kühlschrank aufbewahrt. Die tägliche Dosis wird mit heißem Wasser verdünnt und über den Tag verteilt eingenommen.
Die Dosis ist teilweise doppelt bis dreimal so hoch wie in der westlichen Phytotherapie. Das Feedback des Patienten bezüglich Befindlichkeit, Veränderungen, etc. ist dabei sehr wichtig für den Behandler und den weiteren Therapieverlauf. Alle zwei bis drei Wochen findet ein Gespräch statt, bei dem geklärt wird, ob die Rezeptur verändert oder wiederholt werden muss.
Selbstbehandlung und Qualität
Zur Eigenbehandlung ist die chinesische Phytotherapie aufgrund der o.g. Komplexität und des erforderlichen Fachwissens kaum geeignet und wird ausdrücklich nicht empfohlen. Wer die vom TCM-Arzt verschriebenen Kräuter bestellen möchte, sollte die (apothekenpflichtigen) Arzneien über eine Apotheke bestellen. Denn diese beziehen nur zertifizierte Ware, die gewisse Qualitäts- und Dokumentationsprozesse durchlaufen hat.
Anbau chinesischer Kräuter in Deutschland
Zudem hat die Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft LfL 1999 einen Anbauversuch mit chinesischen Kräutern gestartet. Es heißt dort u.A.: „… Zudem war die Beurteilung der Kräuter und Wurzeln aus dem Versuchsanbau durch Ärzte, Apotheker und Labors erforderlich, auch im Vergleich zur importierten Ware. Dies erfolgte in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Universität Graz, den Firmen PhytoLab GmbH & Co. KG und Kräuter Mix GmbH, sowie den Ärzteverbänden DECA und SMS. Schließlich begannen 2005 mehrere bayerische, auf Heilpflanzen spezialisierte landwirtschaftliche Betriebe mit dem kommerziellen Anbau chinesischer Heilpflanzen. TCM-Kräuter aus heimischem Anbau haben im Vergleich zu chinesischer Importware den großen Vorteil, dass sie im Rahmen eines kontrollierten, lückenlos dokumentierten Anbaus nach GAPRichtlinien (Good Agricultural Practise) erzeugt werden und somit bis zur Feldfläche und zum Saatgut rückverfolgbar sind…“
Mehr dazu hier.
Weitere Blogbeiträge und Inspirationen zum Thema Kräuter: siehe meine aktuelle Buchrezension: „Kräuterprodukte und deren Vermarktung“
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