„Brainwashed – Wie die Lebensmittelindustrie unser Glücksempfinden verändert, mit Werbung unsere Bedürfnisse manipuliert – und wie wir uns dagegen wehren können.“
Nachdem ich vor einiger Zeit das Buch „German Glück“ meiner Kollegin Sabine Eichhorst rezensiert hatte, wollte ich jetzt noch einmal etwas übers Glück wissen. 🙂 Diesmal von einer anderen, ernsten Seite.
Das Buch ist geschrieben von Dr. Robert Lustig, einem US-amerikanischen Kinderarzt und Professor für Neuroendokrinologie (Hormonprobleme bei Kindern). Lustig ist an dem Buch allerdings nur der Name des Autors.
Als Mediziner stützt Dr. Lustig seine Behauptungen durch viele wissenschaftliche Untersuchungen und Studien zahlreicher Kollegen (das Quellenverzeichnis ist 33 Seiten stark) und verschweigt nicht, dass diese hauptsächlich auf Tiermodellen basieren. (Er hinterfragt: Sind Depressionen bei Ratten identisch mit den Depressionen von Menschen? Können Ratten sexsüchtig werden?)
Großes Thema ist Zucker. Und Gelüste. Und die Suche nach der Liebe. Er stellt die Frage nach dem Glück und stellt fest, dass es ein Zufriedenheitssystem im Gehirn gibt, das nichts mit dem Vergnügungs- und Belohnungssystem zu tun hat. „Vergnügen (Belohnung) ist der emotionale Zustand, im dem das Gehirn feststellt: „Das fühlt sich gut an, davon will ich mehr.“ Das Empfinden von Glück (Zufriedenheit) dagegen ist der emotionale Zustand, in dem das Gehirn feststellt: „Das fühlt sich gut an, aber ich will oder brauche davon nicht mehr.“
In Brainwashed geht es nicht nur darum, wie Belohnung und Zufriedenheit auf biochemischer Ebene funktionieren. Im ersten Teil des Buches hat er herausgearbeitet, was die Unterschiede zwischen diesen beiden Emotionen für unsere körperliche und geistige Gesundheit, und sogar für die Gesundheit unserer Gesellschaft bedeutet. Er nimmt uns mit auf die Erkundungsreise ins Gehirn.
Im zweiten Teil geht es um die Biologie von Belohnung und die Wissenschaft von Dopamin. Er erklärt, warum die Motivation, vergnügliche Erfahrungen zu machen, mit Dopamin beginnt, und wie zu viel davon zu Aggression und Gereiztheit führen kann. In Kombination mit emotionalem Stress, was das Verlangen nach Vergnügen zusätzlich verstärkt, ist die Sucht nicht mehr weit weg.
Im dritten Teil geht es um die Biologie von Zufriedenheit und die Wissenschaft von Serotonin und darum, inwieweit die entsprechenden Systeme sich decken. Stichwort: Psychedelika und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). „Du bist was du isst“ offenbart Einblicke in Fakten, die (mir) neu und interessant sind und Antworten auf Fragen gibt, die man sich eigentlich hätte längst stellen können. Auch spannend das Kapitel „Die ’selbst’verschuldete Not: verhängnisvolle Affäre von Dopamin, Cortisol und Serotonin: „Tote Neuronen sind keine guten Neuronen“, Stress gibt uns den Rest“ (Cortisol>>Depression), „sich ganz nach unten schlafen“ (Schlafmangel) oder „ein höchst zweifelhaftes Vergnügen“ (schlechte Ernährung)
Im vierten Teil beweist er, wer oder was diese „Verschwörung“ angerichtet hat. Das ständige Streben nach Vergnügen auf der einen und Profitgier auf der anderen Seite passen gut zusammen. Marketing, Medien und Technologien haben sich der Unterwanderung der Hirnphysiologie verschrieben, um uns von unserem Streben nach Glück abzubringen und uns das „Streben nach Vergnügen“ schmackhaft zu machen. Dies führte in erheblichem Maß zu Krankheiten wie Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs und Demenz.
Im fünften und letzten Teil zeigt er einfache Lösungen auf, mit denen wir dem „schä(n)dlichen Feilbieten von Vergnügen“ etwas entgegensetzen können.
Er erklärt auch, wie sich Stress, der sowohl in Suchterkrankungen als auch in Depressionen enden kann, reduzieren lässt und gibt Vorschläge, wie wir unser Leben und unsere Ziele überdenken können, um ein gesundes Leben mit (gelegentlichem) Vergnügen und (ständigem) Glück zu führen.
Hier nimmt der auch die Sozialen Netzwerke in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen unter die Lupe, mit spannenden Ergebnissen aus einer Längsschnittuntersuchung. „… Das Internet ist sozusage eine legale Ersatzdroge für Menschen, die an einer nicht diagnostizierten Depression leiden, da bei Surfen im Internet vermehrt Dopamin ausgeschüttet wird….“ Es lasse sich der Schluss ziehen, dass „Internetsucht die Folge von problematischem Verhalten oder psychiatrischen Störungen, möglicherweise sogar eine weitere Form der „Suchtübertragung“ ist. Es ist demnach eher unwahrscheinlich, dass das Internet selbst zu diesen Problemen führt.“
Machen Sie nicht einfach irgendetwas – leben Sie bewusst im Hier und Jetzt
Praktische Tipps aus der „Falle“: Spiritualität und „back to the roots“
Das Thema Glück, Zufriedenheit und Befriedigung wird gut hergeleitet, wissenschaftlich und mit Fakten gut untermauert. Im letzten Teil schlägt er Wege aus der Unzufriedenheits-Falle vor. Auch spirituelle Praktiken, wie Meditation, Leben im Hier und Jetzt, Meisterung des Geistes über die Materie und auch Sport werden erwähnt. Das finde ich bemerkenswert. (Persönliche Anm.: Spiritualität ist längst nichts mehr für „Spinner“. Es ist angekommen in Chefetagen, bei Vorständen, Akademikern und Ärzten. Es wird nur nicht offen darüber gesprochen, aber praktiziert wird (offenbar) sehr viel!
Dr. Lustig nennt weitere „Fähigkeiten“ bzw. Gewohnheiten, die in meiner und früheren Generationen, als es noch kein Internet und max. 3 TV-Programme gab, noch normal waren: echte, persönliche Bindungen eingehen, Nächsten- und Menschenliebe, ehrenamtliche Tätigkeit, Kochen für Familie und Freunde, Gespräche führen… Außerdem Zucker und industriell hergestellte Lebensmittel reduzieren. Unter der Überschrift „Zucker „Pop-aganda“ erklärt der Autor, wie die Lebensmittelindustrie uns belügt…
Fazit
Lohnenswert! Viele Fakten, viele Hintergründe, viele Anregungen. Wer Spass daran hat, (ernährungs-)wissenschaftlich und medizinisch tiefer einzusteigen und zu verstehen, kommt hier (auch) auf seine Kosten. Die zahlreichen medizinischen/lateinischen Begriffe muss man allerdings mögen; sie behindert m.E. etwas den Lesefluss, (sofern man den Anspruch hat, die Begriffe zu verstehen.) Es ist kein Buch zum nebenbei Runterlesen; dafür ist das Thema allerdings auch zu komplex.
Wie gesagt: Lustig ist an dem Buch nur der Name des Autors, aber es kann Augen öffnen, Einblicke geben und Klarheit schaffen.
Zu bestellen im riva-Verlag
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